Gruppenfahrt Krimml 1977 - Meine Story Teil 2


Krimml 1977
Das Schuljahr war beendet.
Am letzten Schultag erhielten wir die Zeugnisse.
Es war wirklich passiert. Auf dem Zeugnis stand „wird nicht versetzt in Klasse 8“ und das empfand ich wie eine verlorene Schlacht.
Es war offensichtlich, wie es soweit kommen konnte: vier Tadel, mein Verhalten gab sehr häufig zu Beanstandungen Anlass, oft unaufmerksam, leistete keine Mitarbeit und fertigte die Hausaufgaben nur selten an.
Ich war tiefbetrübt, denn das hieße, dass ich nach den Sommerferien
in eine neue Klasse käme, mit neuen Lehrern.
Die Erzieher gaben mir zu verstehen, dass ich dies doch als Chance begreifen solle, mir wurde jedoch klar, dass das eher ein Weg in den Abgrund sein würde.
Ein nahender Lichtblick war die anstehende Gruppenreise nach Krimml.
Als es endlich losging, freute ich mich.

Nach einer langen Anfahrt erreichten wir das kleine österreichische Dorf und wir bezogen unsere Zimmer.
Der Song des Sommers war Black Betty von Ram Jam, der unaufhörlich aus einem Kassettenrecorder dröhnte.
Wir unternahmen viel zusammen, Goldnuggets suchen in dem Fluss, den Wasserfall besteigen und viele Wanderungen.
Ich fühlte mich frei, die Ängste konnten sich ausruhen, denn hier und jetzt war es W****** unmöglich etwas von mir zu verlangen.
Diese Freiheit wollte ich ausnutzen.

Aufgrund der Hitze verbrachten wir viele Stunden im Freibad.
An einem Tag bemerkte ich ein Mädchen.
Ich konnte meine Augen nicht von ihr lassen und ich spürte einen Anflug
von Gefühlen in mir aufsteigen.
Ich hörte mich um und erfuhr, dass sie Anita heißt.
An nächsten Tag im Freibad nahm ich all meinen Mut zusammen und ging über die Wiese zu dem Platz hinüber wo sie mit ihren
Freundinnen saß. Der Weg erschien mir endlos und als ich vor ihnen stand bemerkte ich, wie mein Mut sich in alle Richtungen verflüchtigte. Meine gut überlegten Worte, die ich ihr sagen wollte, fanden nicht den Weg hinaus. Hilflos wandte ich kurz meinen Blick in Richtung der Jungs, die mir durch Gesten zu verstehen gaben weiter zumachen.
Als ich weiterhin stumm blieb, fragte Anita, was ich denn wolle. In meinem Kopf formte sich das Wort „Dich“ und prompt kamen die Erinnerungen an das, was ich sie fragen wollte zurück. Ich sah sie an und fragte, ob wir uns später bei der Eisdiele treffen könnten.
Die anderen beiden Mädchen, die bei ihr saßen kicherten und mir wurde schnell klar, dass das hier ein Reinfall werden würde.
Die Jungs würden sich vor lachen kaum einkriegen, wenn ich zu ihnen zurückkehrte. Ich stand da, senkte meinen Kopf und wünschte mir, dass sich die Erde auftue und mich verschlinge. Ich bemerkte nicht, dass Anita aufgestanden war und vor mir stand. Sie flüsterte mir zu, dass ich um 16:00 Uhr vor der Eisdiele warten solle. Ich hob meinen Kopf, sah sie lachend an und sagte, dass ich pünktlich sein werde.

Ich traf mich oft mit Anita, lernte ihre Freunde kennen und erfuhr, dass sie in Tirol eine begnadete Skifahrerin war. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart wohl. So war es mir viel wichtiger Zeit mit ihr zu verbringen, als bei den Gruppenaktionen mitzumachen.

An einen späten Nachmittag setzte ich mich auf die Bank, zu der wir Jüngeren uns immer zum Rauchen zurückzogen. Die Bank stand auf einem kleinen Nebenweg, zwischen unserem Haus und der Hauptstraße, umringt von Bäumen, sodass kaum Einsicht bestand.
Dieser Platz war unser ideales Versteck vor den Erziehern.
Ich nahm eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.
Ich spürte einen Anflug von Traurigkeit, denn es waren nur noch wenige Tage, die ich mit Anita verbringen konnte. Ich zog an der Zigarette und sah Toni, einen Freund von Anita, auf mich zukommen. Ich begrüßte ihn und er setzte sich zu mir.
Er fragte mich, in seinem österreichischen Akzent, denn ich lustig fand, warum ich hier alleine herumsitze und heute nicht mit Anita zusammen bin?
Ich erklärte ihm, dass Anita mir gestern Abend sagte, dass sie heute keine Zeit für mich hätte, da sie zum Training müsse.
Toni sah mich mit einem Blick an, der in mir Verunsicherung auslöste.
Ich zog an der Zigarette und fragte ihn, was denn los sei?
Was ich dann von ihm zuhören bekam, machte mich hibbelig und ich spürte eine leichte Wut in mir aufsteigen.
Wie konnte es sein, dass Anita mir gestern sagte, sie hätte keine Zeit und Toni sah sie vor einer halben Stunde mit einem anderen Jungen, aus meiner Gruppe, im Ort?
Auf Nachfrage, wusste ich, welchen Jungen Toni mir beschrieb.
Ich machte die Zigarette aus, sah auf meine Armbanduhr und spürte wie sich Tränen einen Weg suchten. Toni erkundigte sich, ob alles okay mit mir sei? Ich stand von der Bank auf, versicherte ihm mit zitternder Stimme, dass ich das schon regeln werde und verließ ihn in Richtung unseres Hauses, um pünktlich beim Abendbrot zu erscheinen.

Ich verspürte keinen Hunger, setzte mich aber an einen Tisch und aß hastig. Jemand neben mir fragte mich, ob ich noch was vor hätte?
Ich reagierte nicht auf seine blöde Frage, was sollte ich ihm auch antworten? Das ich vor innerer Wut fast explodiere?
Mein Blick wanderte zu W****** der an einem anderen Tisch saß und sich genüsslich seinem Mahl hingab. Ich stand auf, mein Weg führte mich zu ihm an den Tisch und ich flüsterte ihm zu, dass er in 10 Minuten bei der Bank sein soll.

Ich rannte aus dem Eßsaal hinauf ins Zimmer griff mir meine Jacke und dann rannte ich aus dem Haus in Richtung des Kampfortes.
An der Bank angekommen setzte ich mich, legte meine Jacke neben mich, und sah in den dunkler werdenden Himmel.
Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Was willst du denn?“, sagte W******, als er sich neben mich setzte.
„Ich will wissen, was zwischen dir und Anita läuft?“
Ich sprang von der Bank auf und stellte mich vor W******, meine Wut zerriss mich innerlich und ich schrie ihn an, „Was soll das alles?“
Er ergriff meine Arme und platzierte mich wieder auf die Bank.
„Schrei hier nicht so rum. Erstens, kann ich jedes Mädchen haben, so auch Anita“, er sah mich an und fuhr fort, „und zweitens, du gehörst mir.“
Er strich mir über die Haare und ging.
Ich sackte zusammen.
In meinem Kopf startete ein Gedankenkarussell: Bilder tauchten auf, vom dem was mir alles widerfahren ist - Emotionen durchströmten mich und die Worte von W****** hallten in Großbuchstaben durch das Tohuwabohu ...DU GEHÖRST MIR.
Dann bekamen neuartige Gedanken die Oberhand, mach ein Ende.
Meine Versuche dagegen anzukämpfen, waren hoffnungslos.
Ich stand von der Bank auf, zog die Jacke an, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und ging in Richtung des Wasserfalls.

Die Hauptstraße war kaum noch bevölkert, die meisten Geschäfte waren schon geschlossen, nur vor der Eisdiele standen noch ein paar Menschen herum. Als ich die Eisdiele passierte, rief jemand meinen Namen und ich drehte mich um.
Ich sah Toni, der in meine Richtung rannte.
Keuchend blieb er neben mir stehen und fragte, was ich vorhätte?
„Ich weiß nicht...“, ich sah ihn an.
„Komm, lass uns in die andere Richtung gehen.“
Er legte einen Arm um mich und drehte sich mit mir um.
„In der Dunkelheit zum Wasserfall zu gehen kann gefährlich sein. Du willst...“, er unterbrach sich und sah mich an. Ich glaubte zu verstehen, was Toni nicht aussprechen wollte und druckste um die Antwort herum, während wir langsam weitergingen.
Vor einem Geschäft blieb Toni stehen und setzte sich auf die Stufen,
„Setz dich zu mir“, forderte er mich auf. Ich kam dem nach und setzte mich neben ihn auf die Stufen, als er mir erneut eine Frage stellte.
„Darf ich dich was fragen?“
„Ja, natürlich“, seufzte ich, in der Erwartung seiner Frage, ob ich vorhabe mich umzubringen.
„Was meinte er mit, dass du ihm gehörst?“
Unsere Blicke trafen sich, ich senkte den Kopf in meine Hände. Was hatte Toni mich gerade gefragt? Wie kann das sein? Hatte Toni alles mitgehört? Ich hob meinen Kopf ein wenig und fragte ihn, ob meine Vermutung stimmte.
„Ja, als du ihn angeschrien hast, war das ja kaum zu überhören und als er wegging, da...“, er legte einen Arm um mich und sprach ruhig weiter, „...hast du 15 Minuten wie versteinert dagesessen. Ich war zufällig in der Nähe und hab so alles mitbekommen.“
Ich blickte mich um und spürte dass mir Tränen die Wangen herunter liefen.
„Ja Toni, ich wollte... ja ich... , aber...“, gab ich ihm schluchzend zu verstehen.
Er drückte mich näher an sich heran und sagte, dass er so etwas geahnt hätte.
„Toni, ich weiß nicht was ich...“, er unterbrach mich und machte mir den Vorschlag, das ich die Nacht bei ihm schlafen könnte.
„Komm, wir fragen meine Eltern“, sagte er. Er zog mich hoch und wir gingen in die Richtung der Bäckerei seiner Eltern. Dort angekommen, fragte mich Toni, ob er seinen Eltern die Situation erklären dürfe, was ich ihm erlaubte.
Sie machten uns warmen Kakao und während wir beide den Kakao tranken, fragte mich Toni’s Vater, ob er zu den Erziehern gehen dürfe, um ihnen alles zu erklären und um die Erlaubnis zu bekommen, dass ich hier schlafen kann? Ich nickte bestätigend.
Kurze Zeit später erschien sein Vater von der Mission zurück und sagte, dass alles soweit gut wäre und ich die Nacht bei ihnen verbringen darf.
Toni ging vor und zeigte erklärend sein Reich. Das Zimmer war rustikal, wie das ganze Haus, sein Zimmer hatte aber den Charme des Bewohners. Es war ein Kinderzimmer, wie überall, Mickey Mouse Hefte lagen herum, es gab Kuscheltiere, Spiele, einen Schreibtisch, Schränke, eine Stereoanlage und ein großes Bett, auf dem wir es uns gemütlich machten. Toni legte eine Kassette ein und Musik ertönte leise.
Dann, in einem Moment, trafen sich unsere Blicke und ich sah in seine Augen, in sein Gesicht und mir wurde plötzlich klar, dass er mich vor einer großen Dummheit bewahrt hat und ich flüsterte ihm zu, „Danke“.
Er fing an zu lächeln, „Und, bist du jetzt bereit darüber zureden, was passiert ist?“
„Ja.“…und ich erzählte ihm von dem Missbrauch des Paters an mir und von dem was W****** mit mir anstellte.
Toni hörte aufmerksam zu.
Als ich meine Ausführungen beendete, reichte Tony mir ein Taschentuch um die Tränen wegzuwischen,
„Hör zu, du gehörst niemandem“, er stand auf und goss Saft in zwei Gläser und setzte sich wieder auf das Bett, „ich bin geschockt, über das was du erzählt hast, wirklich. Aber schau dich an. Du bist groß, du bist 13, lass dir das von W****** nicht mehr gefallen. Dreh den Spieß einfach um. Sag ihm, wenn er damit nicht aufhört, sagst du es den Erziehern, oder wem auch immer. Er hat keine Macht über dich.“
In mir rotierte es, denn das, was er sagte war die Erlösung.
Meine Erlösung.
Warum bin ich denn nicht selbst darauf gekommen?
„Du hast recht, verdammt, du hast so recht“, ich umarmte ihn.
Wir unterhielten uns noch lange, bis uns der Schlaf einholte.
Die letzten Tage in Krimml verbrachte ich, wenn die Gruppenaktivitäten vorbei waren, zusammen mit Toni, so auch die letzte Nacht in Krimml.
Frühmorgens weckte uns sein Vater und wir machten zusammen Brötchen fertig, die er der Gruppe für die Rückreise spendierte.

... zurück in Berlin:
Im neuen Schuljahr suchte ich meine Fluchten vor W******.
Ich war kaum noch in der Gruppe zugegen. Ich hing öfter mit meiner Freundin und deren Bruder ab und an den Wochenenden fuhr ich zu meinem Vater.
Dann kam der Mai 1978 und die Zeit des Missbrauchs hatte ein Ende, nach einem kurzen Zwischenstopp in einer Klinik, zog ich zu meiner Mutter.

"Ich kam als Kind in das Heim. Ich war voller Vertrauen und Erwartungen auf die Welt. Heraus kam, vier Jahre später, ein gebrochener und depressiver Teenager, der nur noch sterben wollte“.